Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Millionen westdeutsche Kinder zur Genesung und zur Behandlung von Krankheiten sowie psychosozialen Problemen in Einrichtungen „aufs Land“ geschickt – beispielsweise in das Kreiskinderheim der Kreise Beckum und Wiedenbrück im Kurort Bad Waldliesborn.
Der Historiker Jonathan Schlunck hat sich intensiv mit der Thematik befasst und dabei einen Fokus auf die Situation in Westfalen gelegt. In seinem Buch „Kindheit in Westfalen – zur Geschichte der Kinderkuren im 20. Jahrhundert“ beleuchtet er die politischen, wirtschaftlichen und medizinischen Vorstellungen, die der Kinderkur zugrunde lagen und geht auch speziell auf das Kreiskinderheim in Bad Waldliesborn ein.
Am Montag, 30. Juni stellt Schlunck um 18:30 Uhr im Kreishaus in Warendorf (Waldenburger Straße 2, Raum C4.26, Großes Ausschusszimmer) das Buch vor. Es erscheint als Band 7 in der Reihe „Kleine Schriften aus dem Kreisarchiv Warendorf“. Der Eintritt zur Veranstaltung ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
Zum Hintergrund: In der Gesellschaft prägte das System der Kinderkur seit 1946 das Gesundheitsverständnis einer ganzen Generation. Ärzte, kommunale Verwaltungen, Krankenkassen, Kurorte und Eltern arbeiteten zusammen, um einen Ort zu schaffen, an dem Krankheiten, Unterernährung und andere Leiden bekämpft werden konnten. Zur Kur geschickt zu werden war nichts Außergewöhnliches. Vielmehr war es eine generationale Erfahrung. Doch obwohl die Kur für alle Kinder gedacht war, wurden einige Gruppen von Kindern ausgeschlossen, nicht von Anfang an berücksichtigt oder frühzeitig nach Hause entlassen. Dies betraf vor allem Kinder mit Behinderungen, Bettnässer und Kinder, die aus verschiedenen Gründen – meist wegen eines bestimmten Verhaltens – als „gemeinschaftsunfähig“ stigmatisiert wurden.
Das Buch untersucht die damals vorherrschenden Ansichten, die der Kinderkur zugrunde lagen. Sozialhygiene, effiziente Gesundheitsversorgung, ökonomische Rentabilität und die Idee des social engineering prägten das Kurwesen und wurden in der Praxis erprobt und umgesetzt. Durch die Untersuchung der Selektionsprozesse wird deutlich, welche feine Trennlinie das Kursystem zwischen jenen Kindern zog, die als zukünftige Mitglieder der Gesellschaft angesehen, und denen, die als „anormal“ wahrgenommenen wurden. Auf diese Weise wurde eine bestimmte soziale Realität geschaffen, die aufzeigt, welche gesellschaftlichen Kräfte in der Lage waren zu definieren, was Kindheit bedeutet.
Der Autor Jonathan Schlunck wurde 1996 in Frankfurt an der Oder geboren. Er studierte von 2017 bis 2021 Geschichte und Soziologie an der Universität Münster und der Karl-Franzens-Universität Graz. Im Anschluss wechselte er an die Universität Bielefeld und schloss dort mit dem Master 2023 ab. Seit Herbst 2023 ist er Doktorand in der Ideen- und Wissenschaftsgeschichte an der Uppsala University, Schweden.
Foto: Kreis Warendorf
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