Anstelle des coronabedingt abgesagten Rundgangs fand in diesem Jahr ein stilles Gedenken auf dem jüdischen Friedhof in kleinem Kreis statt. Teilgenommen haben neben Bürgermeister Peter Horstmann VHS-Direktor Rolf Zurbrüggen, Schulleiter Udo Lakemper vom Paul-Spiegel-Berufskolleg und Angelika Sturm vom Arbeitskreis „Jüdisches Leben in Warendorf“, die in den Vorjahren die Führung geleitet hat.
„Im Jahr 2021 leben Jüdinnen und Juden nachweislich seit 1700 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands,“ verwies Angelika Sturm zu Beginn Ihres kurzen Vortrags auf das Festjahr 2021, das von Institutionen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens initiiert wurde und zum Ziel hat, jüdisches Leben sichtbar und erlebbar zu machen und dem erstarkenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen. Aufgrund der Corona-Pandemie finden zahlreiche zunächst als Präsenzveranstaltungen geplante Vorträge, Konzerte und andere Formate online statt. Über die Aktionen informiert die Seite des Vereins unter https://2021jlid.de.
Seit dem 12. Jahrhundert sei auch im Münsterland jüdisches Leben belegt und eine erste Erwähnung in Warendorf sei für das 13. Jahrhundert nachweisbar, berichtet Angelika Sturm. Die Gemeinde in Warendorf sei lange Zeit ein typisches Beispiel für das sogenannte Landjudentum gewesen. Die Angehörigen der Landgemeinden waren vielfach im Viehhandel und in der Landwirtschaft tätig, später kamen Geschäftstätigkeiten in der Innenstadt dazu. Vor der Vertreibung und Ermordung lebten rund 80 Juden in der Emsstadt, von denen nur wenige derer, die nicht auswanderten, die Schrecken der Konzentrationslager und das nationalsozialistische Terrorregime überlebt haben.
Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Alliierten zum 76. Mal. Dieses Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung erhoben die Vereinten Nationen 2005 zum Holocaust-Gedenktag. Der 27. Januar wie auch der 9. November, an dem die Nazis 1938 die Zerstörung und Verwüstung von jüdischen Geschäften und Synagogen veranlassten sowie die noch in Deutschland lebenden jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger verschleppten, enteigneten und in den vielen Konzentrationslagern dem sicheren Tod überließen, sind auch in Warendorf fest verankerte Tage des Gedenkens. Angelika Sturm erinnerte an die Namen der ermordeten Warendorferinnen und Warendorfer: Berta Samuel (46), Liane Samuel (17), Arnold Spiegel (54), Ella Spiegel (52), Walter Spiegel (29), Ida Rosenberg (43), Hedwig Rosenberg (48), Siegfried Leffmann (53), Alma Leffmann (53), David Elsberg (67), Rika Elsberg (60), Eduard Elsberg (65), Flora Herz (81), Johanna Lehmann (69), Irma Moser (31), Rosa Spiegel (10).
Das Gedenken in Warendorf ist unmittelbar mit dem Namen Hugo Spiegel verbunden. Spiegel kehrte nach der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau am 30. April 1945 ausgerechnet in die Stadt zurück, in der er 1938 von SA-Milizen an der Ems brutal zusammengeschlagen wurde. Außer ihm überlebten nur Bernhard und Hilde Michel das Konzentrationslager und kehrten nach Freckenhorst zurück. Wieder zu Hause, fand Hugo Spiegel beruflich schnell wieder zu seinen Wurzeln zurück. Ohne nach Vergeltung zu sinnen begann er schon früh, mit den politisch Verantwortlichen in Warendorf nach Formen des Erinnerns zu suchen. Es sollte aber bis 1970 dauern, bis man bereit war, seinem Wunsch nach einem Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof an der heute nach ihm benannten Straße aufstellen zu können. Gemeinsam mit dem damaligen Bürgermeister Dr. Hans Kluck enthüllte Hugo Spiegel 1970 einen Gedenkstein. Mit den Worten „Zum Gedenken unserer jüdischen Mitbürger, die hier ihre Ruhestätte fanden, und derer, die in den Jahren 1933-1945 umgekommen sind“ war dieser ein erstes Zeichen der Erinnerungskultur an dieses dunkle Kapitel der Warendorfer und deutschen Geschichte.
Seitdem erinnert der Gedenkstein dort an das unsägliche Leid der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger Warendorfs und verharmlost doch deren Schicksal. Denn diese jüdischen Mitbürger sind nicht, wie es die Inschrift formuliert, „umgekommen“. Sie wurden verschleppt, gefoltert und ermordet! Der 20 Jahre später, am 12. August 1990 auf der Freckenhorster Straße der Öffentlichkeit übergebene Gedenkstein an die Warendorfer Synagoge ist in seiner Sprache um vieles präziser. Gleichzeitig bringt er das Gedenken dorthin, wo es hingehört, nämlich mitten in die Stadt.
Paul Spiegel, der wie sein Vater seiner Heimatstadt Warendorf immer sehr verbunden war, setzte sich sehr für die Umgestaltung des Vorplatzes zum Jüdischen Friedhof ein. 2001 wurde Spiegel, zwischenzeitlich Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ehrenbürger der Stadt Warendorf. 2006 konnte die mit ihm in jedem Detail abgestimmte Gestaltung des Vorplatzes als weiterem Ort des Gedenkens in Warendorf verwirklicht werden. Das Gedenken an den Warendorfer Ehrenbürger wird besonders engagiert durch das nach ihm benannte Paul-Spiegel-Berufskolleg Warendorf wachgehalten.
„Heute erinnern all diese Orte wie auch die 40 bisher in Warendorf und den Ortsteilen verlegten Stolpersteine an unsere Geschichte und das, wozu totalitäre Regime mit all ihrem von Rassismus und Ausgrenzung geprägten Denken fähig sind“, ist sich Bürgermeister Peter Horstmann bewusst. „Dabei steht die Trauer um die Ermordeten natürlich im Mittelpunkt. Aufgabe der heutigen Generationen ist es aber auch, die Erinnerung an das kulturelle jüdische Leben wachzuhalten.“