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Als Spökenkieker werden im westfälischen und im niederdeutschen Sprachraum, speziell im Emsland, Münsterland und in Dithmarschen, Menschen mit „zweitem Gesicht“ bezeichnet. Der Begriff Spökenkieker kann dabei in etwa mit „Spuk-Gucker“ oder „Geister-Seher“ übersetzt werden. Spökenkiekern wird die Fähigkeit nachgesagt, in die Zukunft blicken zu können.

„Kennst du die Blassen im Heideland,
mit blonden, flächsenen Haaren?
Mit Augen so klar, wie an Weihers Rand.
Die Blitze der Welle fahren?
Oh, sprich ein Gebet, inbrünstig echt,
für die Seher der Nacht, das gequälte Geschlecht.“

Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)

Klassische Beispiele:

Diese begnadete Dichterin aus dem Münsterland gibt uns in ihrem Werk „Bilder aus Westfalen“ einen Blick über das Phänomen des „Spökenkiekers“ – des Zweiten Gesichtes. Wir vernehmen, dass der damit Behaftete zu jeder Tageszeit „überfallen“ werden kann; sehr oft wird er jedoch in Mondnächten heimgesucht. Plötzlich erwacht er aus tiefstem Schlaf. Eine fiebrige Unruhe treibt ihn ins Freie oder auch nur ans Fenster. Kaum ist dem Zwang zu widerstehen.
Der Vorschauer sieht Leichenzüge, Hochzeiten, Heereskolonnen, Feuersbrünste usw. Oft erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten treffen die geschauten Ereignisse ein. Nach ihren Beobachtungen ist der Spökenkieker an seinem hellblonden Haar, dem geisterhaften Blick der wasserblauen Augen und einer blassen oder überzarten Gesichtsfarbe zu erkennen. An sich ist er meistens gesund; es zeigt sich bei ihm keine Spur von Überspannung.
Im vorigen Jahrhundert gab es noch ganze „Spökenkieker“-Familien. Die heute noch lebenden Vorschauer finden sich in allen Ständen. Früher waren es hauptsächlich Schäfer, die mit den Geheimnissen der Natur innig vertraut waren.
Die Deuteroskopie (Vorwissen) ist um die Nordsee verbreitet. Vor allem in Schottland ist die „Second Sight“ häufig anzutreffen. Die Schwerpunkte aber liegen im Sauer- und Münsterland. Eine Statistik weiss zu berichten, dass an den Vorgesichten 80% visuelle, 15% akustische und nur 5% andere Sinnenempfindungen vorherrschen.

Das Bauerngesinde hatte in den Wiesen einen Rechen vergessen. Als ihn der Grossknecht holen wollte, „sah“ er in der Dämmerung einen Ackerwagen fahren, wo kein Weg war. Dieser war mit einem Sarg beladen. Das Gefährt fuhr jedoch nicht zum Friedhof das Dorfes, sondern dem Nachbardorf zu. Etwa ein Jahr später wurde ein Ertrunkener, der aus diesem Dorf stammte, an jener Stelle aus dem Fluss geborgen. Die Erscheinung des Wagens mit dem daraufliegenden Sarge wurde Wirklichkeit.
„Aus eurem Haus trägt man bald eine Leiche“, sprach ein alter Schäfer zu zwei Nachbarjungen. „Ich habe in der vorigen Nacht gesehen, dass der Meister in eurem Backhaus einen Sarg anfertigte.“ Die Jungen lachten und gingen ihres Weges. Kurze Zeit später erkrankte ihr Vater und starb. Der Sargmacher kam, um die letzte Behausung des Menschen zu zimmern. Er wunderte sich aber, dass Hobelbank und Bretter auf der Diele standen. Die Söhne ließen dem Meister sagen, er solle den Sarg an keiner anderen Stelle anfertigen. Grund: das Vorgesicht des Schäfers sollte nicht in Erfüllung gehen. Infolge der Dunkelheit aber konnte der Sargmacher seine Arbeit nicht gut verrichten. Er nahm seine Sachen und brachte sie ins Backhaus und arbeitete im hellen Schein des Ofenfeuers munter weiter. Als die beiden Söhne auf den Hof zurückkamen, trauten sie ihren Augen nicht. Was der Schäfer vorhergesehen hatte, traf ein.
Ein Pfarrer ist abends spät in seinem Studierzimmer beschäftigt. Als er die Tür zum Saal öffnet, erblickt er einen Sarg zwischen brennenden Kerzen. Ein ihm völlig unbekannter Priester ist darin aufgebahrt. Bestürzt weicht er zurück. Plötzlich ist das „Gesicht“ verschwunden. Grübelnd denkt er darüber nach. Kurz danach schellt es an der Haustüre. Er öffnet und erblickt den Geistlichen, den er oben kurz vorher im Sarge sah. Der Fremde bittet um Nachtquartier. Beide kommen miteinander ins Gespräch. Der Pfarrer offenbart sich dem fremden Priester. Dieser bittet ihn, seine Beichte zu hören, obwohl er sich ganz wohl fühle. Am andern Morgen liegt der Priester tot im Bett.
Auf dem Hofe Schulze Raestrup in Telgte arbeitete eine verlobte Lehrköchin. Eines Tages eilte sie zur Tür und rief. „Wilhelm, wo kommst du her?“ – Eine Kameradin, die nichts sah, lachte darüber und machte die Verliebtheit für dieses Gesicht verantwortlich. Kurz darauf aber kam die Nachricht, dass ihr Bräutigam zu dieser Stunde tödlich verunglückt sei.

Erklärungsversuche:

Spielt etwa das religiöse Bekenntnis eine Rolle? Keineswegs. Niedersachsen ist überwiegend evangelisch. Auch katholische Gegenden wie das Emsland und das südliche Oldenburg liegen innerhalb des Kerngebietes.
Die Gesichte der Vorschauer zeigen sich überwiegend bei Dämmerung und Dunkelheit. Sowohl in Schottland wie in Niedersachsen herrscht Mangel an Sonnenschein. Zudem sind Nebelbilder häufig anzutreffen. Ein karger Boden ist die Folge; er macht „konservativ“, was sich vor allem in Sitte und Brauchtum äussert. Die dort lebenden Menschen sind gegenüber natürlichen und übernatürlichen Kräften und Mächten viel aufgeschlossener und feinfühliger.
Der Norweger Physiker Thorstein Wereide meint dazu: „In unseren Bergen war man jahrhundertelang auf übernatürliche Kommunikation stärker als anderswo angewiesen.“ Andere sehen darin ein Hereinragen der Traumwelt in den Wachzustand.
Vom Materialismus geprägte Forscher verweisen diese Phänomene in das Gebiet der Halluzinationen. Von ihnen ist nichts anderes zu erwarten. Karl Schmeing, der bekannte Volkskundler, glaubt annehmen zu dürfen, dass bei diesen Phänomenen die Eidetik mitspiele. Der bekannte evangelische Theologe Dr. Kurt E. Koch hatte auch einen Spökenkieker in seiner Seelsorge. Er sieht im Zweiten Gesicht eine mediale Fähigkeit. Seine These: „Diese Befähigung ist keine Gabe Gottes oder der Natur, sondern eine späte Auswirkung der Zaubereisünden der Vorfahren.“ (!)
Vielen Spökenkiekern ist das Vorsehen oder Vorhören geradezu eine Last. Einer von ihnen soll seinen Arzt gebeten haben, ihn davon zu befreien. Dass dies ein Mediziner nicht vermag, versteht sich wohl von selbst.
Zum Schluss die Worte eines Kaplans: „Es gibt Menschen, die schon hier mit einem Fuss im andern Leben stehen, es sind gleichsam Menschen aus dem Zwischenlande. Gewöhnlich sind es zartbesaitete Naturen und kindliche Seelen – jeder leiseste Hauch von drüben, der an uns spurlos vorübergeht, setzt ihre Seelen in Schwingung.“

 

Spoekenkieker_Denkmal_Harsewinkel

Spökenkieker Denkmal vor dem Rathaus in Harsewinkel

Am 27. November 1962 wurde in Harsewinkel vor dem neu gebauten Rathaus ein 2,40 Meter hohes Spökenkieker-Denkmal feierlich übergeben. Der Wiedenbrücker Bildhauer Hubert Hartmann schlug in den Weser-Sandstein die Figur eines Schäfers, zu dessen Füßen sich Hund und Schafe ducken.
Spricht man in Harsewinkel vom Spökenkieker, so denkt man in der Regel an den so genannten „alten Stümpel“. Stümpel, der in der Zeit von 1830 bis 1904 in Harsewinkel lebte, mit bürgerlichem Namen Anton Westermann hieß und sich als Tagelöhner verdingte, hatte früh düstere Ahnungen über den Ausbruch eines großen Krieges. Er prophezeite Brände, den Bau der Eisenbahnlinie, den Tod eines Kindes und sah auch sein eigenes Ende im Jahr 1904 voraus.


Spökenkieker-Denkmal im Mühlenhof-Freilichtmuseum Münster von Bildhauer Rudolf Breilmann, Münster

Der Spökenkieker sieht die brennende Stadt. Holzschnitt von Heinrich Everz (1926). Original im Emslandmuseum Lingen.