
Ein Religionskurs der Klasse 9B des Mariengymnasiums informiert sich im Kreisarchiv Warendorf über Jugendvereine im Kreis Warendorf in den Jahren 1929–1936
Als Jugendliche setzt sich die bekannte Widerstandskämpferin Sophie Scholl zunächst für den Nationalsozialismus ein. Jeder aus ihrem Umkreis – Frau, Mann, Jugendlicher, Kind – soll in ihren Augen Nationalsozialist werden. Sie begeistert sich für den Gemeinschaftssinn, die Idee der Volksgemeinschaft, die die Nationalsozialisten verbreiten. „In meiner Familie ist es nichts Besonderes, Vorbild zu sein“, sagt sie gegenüber einer Freundin. Gegen ihr Organisationstalent könne man sich kaum zur Wehr setzen, beobachtet Eva Amann, die sich zusammen mit Sophie dem Bund Deutscher Mädel anschließt. Sophie sei hundertprozentig, ja fanatisch engagiert gewesen. Reinhart Müller, der heute 89-jährige Pfarrer ihrer Ulmer Heimatgemeinde, erinnert sich daran, Altersgenossinnen der Widerstandskämpferin hätten ihm gesagt, man solle aus Sophie Scholl keine Heilige machen: „Ältere Frauen erzählten mir, wie sie als Mädchen unter der strengen BDM-Leiterin gelitten hätten“.
Von der Staatspolizei überwacht
Welche Einstellung zeigten, im Vergleich dazu, Warendorfer Jugendliche in der ausgehenden Weimarer Republik im Verhältnis zur Elterngeneration? Haben sie sich zusammengeschlossen? Gehörten sie der Katholischen Jugend Deutschlands (KJD) an, der bündischen Jugend oder den Sportvereinen der Deutschen Jugendkraft (DJK)? Ein Religionskurs der Klasse 9B des Mariengymnasiums erkundete in der vergangenen Woche das Kreisarchiv Warendorf, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Die Neuntklässler fanden vor allem behördliche Vorschriften, Regelungen und Ausnahmeregelungen, die deutlich machten, dass mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler das Leben der Warendorfer Jugend überwacht wurde. Verboten wird den Jugendvereinen ab Sommer 1934 „jedes geschlossene Auftreten in der Öffentlichkeit […], Sport jeglicher Art, insbesondere Gelände- und Volkssport-, gemeinsames Gruppenwandern, die Errichtung von gemeinsamen Ferien- und Feldlagern, das öffentliche Führen und Zeigen von Fahnen, Bannern und Wimpeln, das – auch verdeckte Tragen einheitlicher Kleidung.“ Die Hitlerjugend (HJ) wird zum zentralen Jugendverband des Deutschen Reiches.
Den guten Absichten zum Trotz lösten sich die Fragen des Religionskurses nicht einfach auf. Die Schülerinnen und Schüler fanden ungewohnte Schreibschriften vor und Dokumente, die in der gebrochenen Druckschrift, der Frakturschrift, verfasst worden waren. Die geschichtlichen Hintergründe waren nicht immer klar umrissen oder traten nicht unmittelbar aus den Quellen hervor, beispielsweise aus mehreren Rechnungen über Schießausrüstungen, die mithilfe des Archivars Frank Schirrmacher auf ihren Inhalt und Adressaten hin überprüft wurden.
„Schluss. Jetzt werde ich etwas tun!“ Mit dieser Haltung wendet sich Sophie Scholl von der nationalsozialistischen Bewegung ab, als ihr die Zusammenhänge klarer werden. Ihr entschiedener Widerstandsgeist ist endgültig geweckt, als sie sich 1942 der „Weißen Rose“ anschließt. Mit der Recherche im Kreisarchiv hat der Religionskurs des Mariengymnasiums zumindest den Versuch unternommen, ähnlich widersprüchliche Biografien im Kreis von Warendorfer Jugendlichen dieser Zeit zu entdecken.
Von Gerold Paul
Foto: MGW