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Auseinandersetzung mit Leid, Befehlsgehorsam und Widerstand

Schülerinnen und Schüler des Paul-Spiegel-Berufskollegs begegneten der Geschichte im Kontext des Nationalsozialismus auf Gedenkstättenfahrten in vier Ländern.

Mit seinem Namen macht das Paul-Spiegel-Berufskolleg deutlich, für welche Werte es steht: Weltoffenheit, Demokratie, Toleranz, Menschenrechte, Respekt, Integration. Aber einen Namen zu tragen, ist nicht genug. Es gilt, diese Werte in der Schulkultur auf vielfältige Weise bewusst zu machen und zu leben, Bewusstsein und Handlungsfähigkeit junger Menschen für ein verantwortungsvolles, friedliches soziales Miteinander zu stärken. Im Sinne dieses pädagogischen Leitziels hat das Paul-Spiegel-Berufskolleg seiner gesamten Schülerschaft ein besonderes Angebot gemacht. In Kooperation mit Peter Junge-Wentrup und Leander Vierschilling vom Verein „Gemeinsam Erinnern für eine Europäische Zukunft“ (GEEZ e.V. mit Sitz in Münster) stellten Roland Niehues (Fachlehrer Politik und Religion) und Kristin Antemann (Fachlehrerin Deutsch und Biologie) ein Programm mit Gedenkstättenfahrten zusammen. Schließlich machten sich Ende Januar über 100 Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Klassen und unterschiedlichsten Voll- und Teilzeitbildungsgängen auf den Weg. Sie haben sich in Auschwitz (Polen), Riga (Lettland), Vught und Amsterdam (Niederlande) sowie in Berlin und Osnabrück mit Perspektiven der Täter, der Opfer und des Widerstands im Kontext des Nationalsozialismus beschäftigt. Begleitet wurden sie von Lehrkräften des Berufskollegs, Mitarbeitern des GEEZ e.V. und Historiker Matthias M. Ester vom Geschichts-Kontor Münster.

Riga (Lettland)

Warum eine Gedenkstättenfahrt nach Riga? Dieser Frage ist eine 18köpfige Gruppe nachgegangen. Die Verbindung zwischen Riga und Warendorf wurde im Laufe der Woche immer sichtbarer. In Bikernieki, dem größten Tatort des Massenmords in Lettland, gedachten die Kursteilnehmer*innen tief bewegt der 1941 nach Riga deportierten Jüdinnen und Juden aus Warendorf. „Vor Ort waren die vielen Informationen sehr bedrückend und herausfordernd“, blickt Teilnehmerin Leonie Voßmann zurück. „Mir ist aber bewusst geworden, dass jedes Detailwissen wichtig war und ist, um das gesamte Ausmaß unserer Geschichte zu kennen und zu verstehen.“ Auch das Zeitzeugengespräch mit dem Shoah-Überlebenden Margers Vestermanis (Jg. 1925), der als einziger seiner Familie die deutsche Besatzungszeit überlebte, berührte sehr. „Das Gespräch mit Herrn Vestermanis hat mir vor Augen geführt, dass die Verbrechen, die im Holocaust begangen wurden, noch nicht so lange zurückliegen, wie man das meint“, resümiert Dennis Meier (Teilnehmer).

 

In Bikernieki erinnert auch eine Gedenkplatte an die Menschen, die aus Warendorf nach Riga deportiert und dort ermordet wurden.

Der Shoah-Überlebende Margers Vestermanis (Jg. 1925) im Gespräch auf Deutsch mit der Teilnehmergruppe aus Warendorf.

Kamp Vught und Amsterdam (Niederlande)

15 Schülerinnen und Schüler fuhren in die Niederlande. Im Fokus der ersten Tage stand die KZ-Gedenkstätte Kamp Vught. Neben dem Rundgang durch das Lager beeindruckte das Zeitzeugengespräch mit Miel Andriesse, der 1942 als Kind jüdischer Eltern geboren wurde, die Gruppe nachhaltig. „Ich habe also Glück gehabt, aber sechs Millionen Andere nicht. Die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges dürfen nie vergessen werden“, mahnte Andriesse. Ein Zwischenstopp führte in das beeindruckende Dorf Nieuwlande, in dem während der deutschen Verfolgung mehr als 1200 Juden untertauchen und den Krieg überleben konnten. Hochengagierte Ehrenamtliche führten die Gruppe an Originalschauplätze, wie etwa ein Versteck unter einem Kirchenboden. In Amsterdam lernten die Schülerinnen und Schüler das jüdische Leben in der Hauptstadt kennen und besuchten das Widerstandsmuseum sowie das Anne-Frank-Haus. Ein Schüler fasst seine Eindrücke zusammen: „Wir haben traurige und tragische Geschichten kennengelernt, die emotionale und eindrucksvolle Spuren hinterlassen haben.“

In Amsterdam besuchte die Gruppe das Nationalmonument, ein Mahnmal für die Opfer der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg.

Osnabrück

Für einen Tag besuchte eine Gruppe die Gedenkstätte Augustaschacht bei Osnabrück. In diesem ehemaligen Arbeitserziehungslager der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) waren während des zweiten Weltkrieges mehr als 2.000 Männer und Jugendliche aus 17 verschiedenen Ländern zumeist als Zwangsarbeiter inhaftiert. Ein begleiteter Rundgang durch die Ausstellung und über das Gelände des Lagers ermöglichte Einblicke in den Haftalltag der Gefangenen. Ausstellungsstücke und Erinnerungen ehemaliger Gefangener zeugten von den Schwierigkeiten, unter den unmenschlichen Bedingungen im Arbeitserziehungslager zu überleben. Im Rahmen eines Workshops begaben sich die 19 Schülerinnen und Schüler anschließend auf eine Zeitreise und erkundeten Schicksale und Geschichten einzelner Gefangener. Gerade die Beschäftigung mit diesen Einzelschicksalen, aber auch die unmittelbare Nähe der heutigen Gedenkstätte zur Heimatregion machten den Besuch besonders eindrucksvoll und bewegend.

Workshop zu den Schicksalen einzelner Gefangener in der Gedenkstätte Augustaschacht

Auschwitz und Krakau (Polen)

Eine sehr intensive Zeit verbrachten 38 Schülerinnen und Schüler in Polen. Der Besuch des ehemaligen Stammlagers „Auschwitz I“ und des Vernichtungslagers „Birkenau“ war sehr beindruckend und doch so unfassbar, was dort unter der Herrschaft der Nationalsozialisten passiert ist. Die Ausstellung von Marian Kokodziej, einem ehemaligen Häftling und Überlebenden von Auschwitz, in einem Kloster in Harmęże hat diese Fassungslosigkeit über das Geschehen nochmals unterstrichen. „Es ist schwer, die Grausamkeiten zu begreifen“, so ein Teilnehmer. In Krakau hat die Gruppe zunächst bei einer organisierten Stadtführung die Schönheit dieser Stadt erfahren dürfen, aber auch hier ging es auf Spurensuche. Beim Besuch des jüdischen Viertels konnten einige Schülerinnen und Schüler Drehorte des Films „Schindlers Liste“ wiedererkennen.

Besuch der Gedenkstätte des Stammlagers „Auschwitz I“

Berlin

In Berlin war die Gruppe der Perspektive der Täter und Widerstandskämpfer auf der Spur. In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die an der Berliner Stauffenbergstraße im sogenannten Bendlerblock untergebracht ist, ging es besonders um die Biographien der Hitler-Attentäter Georg Elser (8. November 1939) und Claus Schenk Graf von Stauffenberg (20. Juli 1944) und um ihre Motive. Zudem befassten sich die Schülerinnen und Schüler mit den Motiven des Widerstands junger unbekannter Gruppen während des Nazi-Regimes. Schwerpunkt der Studientage im Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ im ehemaligen Reichssicherheitshauptamt und im Konzentrationslager Sachsenhausen war die Täterperspektive in den unterschiedlichsten Facetten; insbesondere die Facette, bei der die ausgeführte Brutalität über den Befehl hinausging. Auch stand die Frage nach der Motivation im Blickpunkt. Im Gespräch mit einer ehemaligen Inhaftierten des Stasi-Gefängnisses Hohenschönhausen konnten die Schülerinnen und Schüler vor Ort das politische System des Nazi-Deutschlands mit dem der DDR im Umgang mit Oppositionellen vergleichen. In einem weiteren Zeitzeugengespräch an der Gedenkstätte Berliner Mauer erfuhr die Gruppe von einer erfolgreichen Tunnelflucht und den damit verbundenen Ängsten und Freiheitsgefühlen.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studienfahrten sind sich einig darüber, wie wichtig der Besuch der Gedenkstätten ist: um Geschichte zu erfahren und zu erinnern, aber auch, um das eigene Denken und Handeln zu reflektieren. Projektinitiator Roland Niehues: „Im Transfer dieser vor Ort gewonnenen Erkenntnisse auf die eigene Lebenswirklichkeit im Hier und Jetzt steckt der außerordentliche Wert für die Persönlichkeitsbildung unserer Schülerinnen und Schüler. Mit den Studienfahrten wollen wir Bewusstsein schaffen für die Wirkmächtigkeit hierarchischer Konstruktionen im Zuge des Obrigkeitsglaubens, des Befehlsgehorsams aus der Täterperspektive und des politischen Engagements aus der Perspektive des Widerstands.“

(Fotos: Paul Spiegel Berufskolleg)