Warendorf. Am 8. Mai 2020 jährt sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges. Das ist für Deutschland wie auch für Warendorf ein bedeutsames Ereignis.
Vor 75 Jahren lag Deutschland in Schutt und Asche. Warendorf wurde von Zerstörungen verschont. Das macht die Atmosphäre unserer wunderschönen Altstadt heute einzigartig. Lediglich die Brücke über die Ems wurde in den letzten Kriegstagen – genau am Ostermontag 1945 – gesprengt, um den Einzug der alliierten Truppen zu verzögern. Die Sprengung der Teufelsbrücke und der Emsbrücke an der Gartenstraße konnte durch das umsichtige Handeln einiger Bürger verhindert werden.
Mit Beendigung des Krieges kehrte in Warendorf aber noch lange keine Normalität ein. Im Nordrhein-Westfälischen Landgestüt und in der Remonte an der Tönneburg – der heutigen Georg-Leber-Kaserne – waren bis August 1945 mehr als 10.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus 15 europäischen Ländern und auch aus Ägypten untergebracht. Anschließend wurden dort bis Dezember 1945 17.000 westdeutsche Evakuierte untergebracht.
In vielen Städten wird in diesen Tagen, insbesondere am 8. Mai dem Kriegsende gedacht. Natürlich auch in Warendorf. Ursprünglich war geplant, gemeinsam mit den Warendorfer Schulen den Weg der Heimatvertriebenen vom Warendorfer Bahnhof zum Landgestüt nachzuempfinden. Diesen Elendszug der Menschen, die nach der durch Entbehrungen, Leid, Ungewissheit und Misshandlungen geprägten Flucht ihre erste Zuflucht in Warendorf fanden nachzustellen. Gemeinsam mit den vielen Schülerinnen und Schülern auf dem Weg vom Bahnhof zum Landgestüt an den Stellen innezuhalten, die auch heute noch Geschichten vom Krieg und vom Kriegsende erzählen können. An der Synagoge in der Freckenhorster Straße, vor der die gewalttätigen Ausschreitungen der SA am 9. November 1938 keinen Halt machten. Nur wenige Tage nach den Ausschreitungen wurde das Gebäude an einen Kaufmann verkauft mit der Auflage durch den damaligen Regierungspräsidenten, einschneidende bauliche Veränderungen vorzunehmen. Dadurch wollte die Behörde das Gebäude als Synagoge aus dem Stadtbild verschwinden lassen.
Eine weitere Station sollte der Kreuzungsbereich Freckenhorster Straße, Münsterstraße, Im Ort sein. Hier erfolgte am Osterdienstag, dem 3. April 1945 die kampflose Übergabe an die alliierten Truppen unter Major Hall. Zuvor waren die verbliebenen deutschen Truppen aus Warendorf geflüchtet. Bürgerinnen und Bürger der Stadt hatten, beginnend im Haus Markt 12, weiße Fahnen gehisst. Aufklärungsflieger haben diese erkannt, so dass die Übergabe durch den Beigeordneten Josef Schmücker, den Stadtrentmeister Theodor Lepper und den Oberstudienrat Heinrich Blum als Dolmetscher ohne vorherige Zerstörungen möglich wurde.
Einzig die Emsbrücke wurde am Morgen des Ostermontags durch Sprengung zerstört. Das Pionierkommando der SS hatte den Auftrag, die drei Brücken über die Ems (Brücke Gartenstraße, Teufelsbrücke und Marktbrücke) zu zerstören. Erzählungen zufolge haben mutige Bürger die Wachen an den Brücken so abzulenken verstanden, dass weitere Bürger die Zündschnüre durchschneiden konnten. Lediglich bei der Marktbrücke ist ihnen das nicht gelungen. Am Ostermontag während des Ostergottesdienstes wurde sie gesprengt. Den in Warendorf geborenen und aufgewachsenen Schriftsteller Paul Schallück hat dieses Ereignis so beeindruckt, dass er es 1955 in seiner Erzählung „Weiße Fahnen im April“ verarbeitete.
Der Standort des ehemaligen Kriegerdenkmals zu Ehren der im Ersten Weltkrieg Gefallenen sollte eine weitere Station sein. Hier legten Mitglieder der Schutzstaffel den zuvor von einem an der Fleischhauer Straße postierten SS-Posten exekutierten 38 Jahre alten Soldaten Otto Hermann zur Abschreckung hin. Seine Feldflasche, den Brotbeutel und zwei Tafel Schokolade ließ man ihm. Das Leben jedoch nahm man ihm. Sein Leichnam wurde auf dem Warendorfer Friedhof beigesetzt.
Nach dem Ende des Krieges, von März bis in den Herbst 1946 dienten die Pferdeställe im Nordrhein-Westfälischen Landgestüt als Aufnahme- und Durchgangslager für über 43.000 vertriebene Ostdeutsche, vor allem aus Schlesien. Sie wurden hier registriert und in private Quartiere in den Städten und Dörfern im Münsterland zwangseingewiesen. Erst lange danach hatten sie die Chance, sich eine neue Heimat zu schaffen, eine neue Existenz aufzubauen. Auch diese Situation im Nordrhein-Westfälischen Landgestüt sollten – den ursprünglichen Plänen der Stadt Warendorf folgend – Schülerinnen und Schüler der Warendorfer Schulen nachempfinden. Wie die Flüchtlinge 1946 sollten sie im Landgestüt unter einfachsten Bedingungen eine Suppe und ein Stück Brot aus der Suppenküche, die 1946 der Elisabeth-Verein unter Federführung der späteren Ehrenbürgerin Elisabeth Schwerbrock täglich ausschenkte, bekommen.
Alles war geplant, mit der Museumspädagogin des Westpreußischen Landesmuseums und der Laurentiusschule begeisterte Kooperationspartner gefunden. Alles hätte so gut werden können. Hätte Aufsehen erregen können. Hätte auch zum Nachdenken über das Heute anregen können. Und dann ließ die Corona-Pandemie dieses Vorhaben wie so viele andere auch sich plötzlich im Nichts auflösen.
Trotzdem möchte die Stadt Warendorf dieses Ereignisses in angemessener Form gedenken. Gemeinsam mit dem Westpreußischen Landesmuseum entwickelte ein Team aus dem Sachgebiet Kultur ein digitales Format, das all die genannten Stationen aufgreift. Der hierfür eigens produzierte Film „Weiße Fahnen im April“ wird am 8. Mai auf der Seite der Stadt Warendorf unter www.warendorf.de online gestellt. Der Film lädt ein, sich auf die Reise ins Warendorf der Nachkriegstage zu begeben. Der Titel ist übernommen aus der Erzählung von Paul Schallück, für die ihm 1955 vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe der Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis verliehen wurde. Diese Erzählung bildete auch die Grundlage für das Hörspiel „Die Warendorfer retten ihre Stadt“, das der WDR Münster 1961 aufnahm und sendete. Die Macher des Filmes wurden im Zuge ihrer umfangreichen Recherchen unter anderem auf dieses Hörspiel aufmerksam und konnten für die im Film eingesprochenen Texte Teile daraus verwenden. Ein ganz besonderer Fund gelang ihnen allerdings durch den Fund eines bisher nicht bekannten dokumentarischen Filmberichtes. Am 8. Mai 1945 produzierte die 168th Signal Photografic Company der Vereinigten Staaten den Film Injurie of Russian Ex-Prisoners now staying at the US-Army Displaced-Persons-Camp Warendorf. Dieses Lager befand sich bis August 1945 im Nordrhein-Westfälischen Landgestüt. Der Film befindet sich heute im Original in den Beständen des Imperial War Museum London. Verständlicherweise sind die Projektverantwortlichen stolz, dass es ihnen gelungen ist eine Kopie für die Dokumentation in Warendorf zu erwerben.
Aber auch an die Geschehnisse der Nachkriegszeit möchte die Stadt Warendorf mit diesem Filmbeitrag erinnern. Von Oktober bis Dezember 1945 waren im Landgestüt mit der „Aktion Honigbiene“ in 22 Zugtransporten 21.308 Deutsche untergebracht, die im Krieg überwiegend aus dem Rheinland und Westfalen nach Mittel- und Ostdeutschland evakuiert worden waren. Von hier wurden sie wieder in ihre Heimat zurückgeleitet. Mit ihnen kamen auch die ersten ostdeutschen Flüchtlinge und Vertriebenen nach Warendorf. Von März bis Herbst 1946 dienten die Pferdeställe als Aufnahme- und Durchgangslager für die bereits erwähnten 43.000 vertriebenen Ostdeutschen. Sie kamen in Zugtransporten mit der „Aktion Schwalbe“ zu jeweils 1.000 Personen in Warendorf an. Es waren überwiegend traumatisierte Frauen, Kinder und ältere Männer, die über das Auffanglager Marienthal bei Helmstedt in Zügen am Bahnhof Warendorf ankamen.
Mit einem dieser Transporte kam auch der heutige Prälat und letzte Großdechant der Grafschaft Glatz Franz Jung nach Warendorf. Mit seiner Mutter und neun Geschwistern wurde er in einer Pferdebox im Landgestüt Warendorf untergebracht. Er ist einer der letzten Zeitzeugen für dieses die Geschichte der Stadt Warendorf in besonderem Maße prägenden Ereignisses. Er engagiert sich mit weiteren Mitstreitern aktuell sehr intensiv für die Errichtung einer Gedenkstele vor den Toren des Nordrhein-Westfälischen Landgestütes und wird dabei von der Stadt Warendorf nach Kräften unterstützt. Sein ergreifender Zeitzeugenbericht, den er über die Kontakte mit der Stadt Warendorf zur Realisierung des Filmprojektes beisteuerte, war ein wichtiger Beitrag, um den Film im Ergebnis lebendig und authentisch werden zu lassen.
Der Schlusssatz einer Textpassage, die aus diesem Zeitzeugenbericht für den Film eingesprochen wurde, war ein Grund mehr für die eindringliche Botschaft von Bürgermeister Axel Linke, der in diesem Filmbeitrag einleitend wie auch zum Schluss spricht:
„Deswegen ist jede Vertreibung – wo und wann immer sie geschieht – ein Verbrechen gegen alle Menschenwürde – diesen Worten des Großdechanten Franz Jung, einem der letzten Zeitzeugen für die Unterbringung der Heimatvertriebenen in Warendorf, ist nichts hinzuzufügen.
Damals – 1946 – wurden 15 Millionen Menschen aus den Deutschen Ostgebieten vertrieben. Heute sind 75 Millionen Menschen als Flüchtlinge unterwegs, getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Oder als Vertriebene, weil Diktatoren ihre Macht missbrauchen und Menschenrechte immer noch brutal verletzt werden.
Das sind Fremde, die uns begegnen. Ebenso, wie unseren Vorfahren die Heimatvertriebenen als Fremde begegneten. Aber diese Vertriebenen haben hier in ihrer neuen Heimat tatkräftig am Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland mitgewirkt. Sie haben das mit aufgebaut, auf das wir alle heute zu Recht stolz sind. Das, was heute unsere Heimat ist.
Und auch heute finden wir bei genauem Hinsehen genügend Beispiele, wo sich Flüchtlinge integrieren, dazu gehören wollen, hier lernen wollen, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien selbst bestreiten zu können. Diese Menschen verdienen unsere Unterstützung, unsere uneingeschränkte Solidarität!
Aus den menschenverachtenden Taten des nationalsozialistischen Terrorregimes können und müssen wir immer wieder für die Zukunft lernen.
Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland nimmt uns hierzu geradezu in die Pflicht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
Ja, sie ist unantastbar, die Würde des Menschen. Jedes Menschen. Egal welcher Hautfarbe, welcher ethnischen Herkunft, welcher Religionszugehörigkeit. Und damit ist es unser aller Aufgabe, aus der Vergangenheit für das Hier und Heute zu lernen, damit rechtes Gedankengut, Ausgrenzung und die Missachtung der Menschenwürde nicht Raum greifen können. Auch 75 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges hat diese vordingliche Aufgabe für uns alle nicht an Aktualität verloren.“
Über die Produktion des Filmes hinaus werden die Stadt Warendorf die aus der Recherche gewonnenen Erkenntnisse auch weiterhin beschäftigen. So soll zum Beispiel für den Warendorfer Friedhof ein neues Konzept der geschichtlichen Erläuterung erarbeitet und umgesetzt werden. Neben dem 38-jährigen Soldaten Otto Hermann wurden hier nämlich auf Anordnung der Besatzungsmächte 1946 auch insgesamt 87 sowjetische Staatsbürger, Polen und auch Menschen, deren Nationalität nicht bekannt ist, beigesetzt.
Hinweise zu Bildern
- 1945-05-08-Besuch von Schulklassen im Lager für Displaced Persons, Landgestüt -1 (Imperial War Museum London)
- 1945-05-08-Besuch von Schulklassen im Lager für Displaced Persons, Landgestüt -2 (Imperial War Museum London)
- 1945-05-08-Eingangstor zum Landgestüt, aus Film über Lager für Displaced Persons (Imperial War Museum London)
- Ankunft von Heimatvertriebenen an einem Bahnhof-1 (Bildarchiv Altstadtfreunde)
- Ankunft von Heimatvertriebenen an einem Bahnhof-2 (Bildarchiv Altstadtfreunde)
- Aufforderung zur Kleiderspende für das Lager für Displaced Persons (Bildarchiv Altstadtfreunde)
- Bahnhof Warendorf, Wagon auf dem Güterbahnhof (Bildarchiv Altstadtfreunde)
- Landgestüt Warendorf, Stallgasse mit Pferden (Bildarchiv Altstadtfreunde)
- Marktbrücke im Zustand vor der Sprengung (Bildarchiv Altstadtfreunde)
- Übernahme Warendorfs durch Alliierte (Bildarchiv Altstadtfreunde)
- Cover Weiße Fahnen im April, Autor Paul Schallück (Bildarchiv Altstadtfreunde)
Link zum Film